Die Zeitlose Seele im faltigen Gewand

Manchmal, wenn sie am Fenster sitzt und die Welt vorbeiziehen lässt wie ein langsam verblassender Film in Sepiatönen, lächelt sie –
nicht aus Wehmut, sondern aus einem tiefen, inneren Wissen heraus, dass der Spiegel lügt, dass die Zeit ein schlechter Maler ist,
der nur die Oberfläche trifft, während darunter, im wahren Atelier des Seins, eine Seele tanzt, die kein einziges Haar verloren hat,
kein Gelenk rostig kennt, keine Erinnerung verwelken lässt, sondern sich biegt wie Licht, springt wie ein Kind, denkt wie ein Stern.

Sie, deren Haut Geschichten erzählt, in feinen Linien, wie Runen einer Sprache, die nur das Leben schreibt, spürt in sich ein Kichern,
ein unbändiges, schelmisches Aufblitzen – als hätte das Universum selbst einen Funken seiner Urenergie in ihr Herz gesetzt,
eine Art Quantenwitz, der sich jedem thermodynamischen Gesetz entzieht,
weil Liebe und Bewusstsein eben keine Masse haben und deshalb nie altern können.

Ihr Gang mag langsamer geworden sein, ihre Hände zittern leicht, wenn sie den Teelöffel hebt
– aber wehe, man glaubt, sie sei müde, alt, bereit zum Archivieren – denn in ihrem Innersten knistert es,
wie in der Atmosphäre vor einem Gewitter, das nicht zerstört, sondern heilt;
dort, wo Gedanken sich schneller bewegen als Licht, wo Erinnerungen nicht verblassen, sondern blühen,
und wo jede Falte auf der Haut eine Blüte im Geist gegossen hat, mit Wurzeln, die tiefer reichen als die Chronologie erlaubt.

Sie spricht mit Bäumen wie mit alten Freunden, hört im Rauschen des Regens Formeln der Quantenverschränkung,
als wären Raum und Zeit nichts als höfliche Konzepte, die sich verbeugen, wenn ein lebendiger Blick sie durchschaut
– und wenn sie lacht, dann fällt der Staub der Jahre ab, dann reißt für einen Moment der Vorhang zwischen Welten,
und man sieht: Da ist ein Wesen aus Sternenstaub, gewickelt in Biologie, aber nicht daran gebunden.

In Gesprächen mit jungen Menschen legt sie manchmal den Kopf schief, nicht aus Höflichkeit, sondern weil sie genau spürt,
wie der Takt der Seelen tickt, unabhängig vom Geburtsdatum, und wie das große Rätsel, das wir Leben nennen,
sich weder in Kalorien noch in Kalenderjahren fassen lässt, sondern in der Fähigkeit, zu staunen, zu lieben, zu tanzen ohne Musik
– ja, sogar im Rollstuhl, wenn es sein muss.

Und obwohl ihr Knie knackt, wenn sie aufsteht, und ihre Brille dicker geworden ist, liebt sie das Spiel des Körpers
– nicht trotz, sondern wegen seiner Zerbrechlichkeit – denn sie weiß: Der Körper ist nicht das Haus der Seele,
sondern nur das Fenster, und wie jedes gute Fenster darf es blind werden, solange der Blick nach innen klar bleibt.

„Manchmal“, sagt sie schmunzelnd, „verliebt sich meine Seele immer noch in die gleiche Unmöglichkeit wie mit zwanzig:
den Wunsch, durch Wände zu gehen, durch Zeit zu reisen und Gott zu fragen,
warum so viele Menschen ihr inneres Kind in Rente geschickt haben.“

Dann nippt sie an ihrem Tee, blinzelt in die Sonne wie ein Zen-Meister im Pyjama, und denkt bei sich:
Vielleicht ist das der wahre Witz der Schöpfung – dass wir alt aussehen dürfen,
um nicht dauernd erklären zu müssen, warum wir so jung geblieben sind.





Der Junge mit dem silbernen Bart

Er steht oft früh auf, nicht weil er muss, sondern weil sein Körper es so will – ein bisschen stur geworden mit den Jahren,
wie ein alter Hund, der weiß, wann es Zeit ist, aufzuwachen, auch wenn draußen noch alles schläft.
Die Kaffeemaschine schnauft, er lehnt sich an den Küchenschrank, schaut durch das Fenster in den Morgen,
als wollte er den Tag fragen, ob er heute wieder etwas Unerwartetes für ihn hat.

Die Haare sind grau, die Bewegungen nicht mehr so selbstverständlich. Manchmal knackt es beim Aufstehen,
manchmal sucht er nach einem Wort, das ihm früher von der Zunge gefallen wäre wie ein Kiesel aus der Tasche.
Aber in seinem Inneren sitzt jemand, der alles noch kann: rennen, lieben, kämpfen, zweifeln, hoffen – nur eben leiser.

In seinem Kopf fährt er immer noch Motorrad, barfuß durch fremde Länder, in Gedanken schläft er auf einem Dach in Marrakesch
oder lacht sich mit Freunden halbtot über irgendeinen schlechten Witz um drei Uhr nachts.
Seine Seele ist kein alter Herr – sie ist ein Junge, der die Welt nicht sattkriegt.

Er liest viel, aber nicht mehr, um klüger zu werden – sondern um das Bekannte wiederzuerkennen.
In den großen Worten anderer entdeckt er die kleinen Wahrheiten in sich. Er glaubt nicht an alles,
was geschrieben steht, aber an das, was zwischen den Zeilen lebt.

Wenn jemand ihn fragt, wie alt er sei, lächelt er nur und sagt: „Alt genug, um zu wissen, dass das nichts über mich sagt.“

Er redet mit seiner Zimmerpflanze. Flucht auf Latein, wenn er etwas fallen lässt.
Singt schief beim Rasieren, weil niemand zuhört – oder vielleicht, weil er hofft, dass jemand zuhört.
Sein Humor ist trocken, wie guter Wein, und er weiß genau, wann man still sein muss, um gehört zu werden.

Sein Körper ist nicht mehr das, was er war – aber er ist noch immer ein erstaunliches Gefährt.
Manchmal streikt er, ja. Aber er trägt ihn durch die Tage, und das reicht.
Wenn die Hände zittern, hält er sie still. Wenn das Knie schmerzt, lacht er: „Altmetall rostet halt.“

Er erinnert sich an Frauen, die er geliebt hat, an Sätze, die er bereut, an Augenblicke, die geblieben sind,
obwohl sie längst vorbei sind. Und er ist dankbar – nicht auf eine postkartige Weise, sondern auf eine stille, kraftvolle Art.
Für das, was war. Und für das, was noch kommt.

Denn da ist noch Leben. Nicht weniger, nur anders. Tiefer.

Und manchmal, wenn er allein am Küchentisch sitzt, mit einer Tasse Tee,
in Socken, die nicht zueinander passen, und der Wind leise durchs gekippte Fenster streicht, denkt er:
Vielleicht ist das der Trick.

Dass man außen langsam vergeht, damit das Innere mehr Platz bekommt.
Dass die Welt einen irrtümlich für fertig hält – und man in Ruhe weiterträumen kann.

Und vielleicht, denkt er dann und schließt die Augen, vielleicht zählt am Ende nicht,
wie oft man gefallen ist, oder wie oft man gewonnen hat.
Vielleicht zählt nur, ob man ganz man selbst geblieben ist.

Ob man lebendig war – bis zuletzt.



Aufleuchten für eine Nacht

Früher, als ihre Haare noch wie Flammen wehten und seine Stimme noch wie eine Gitarre klang, die keiner je ganz richtig gestimmt hatte,
da waren sie zwei, die sich fanden, ohne zu wissen, was sie da entdeckten. Keine große Romanze mit dramatischem Kuss im Regen,
eher eine stille Nähe, die blieb, auch wenn man sie nicht berührte. Zwei Menschen, die im gleichen Takt gingen – ohne es laut auszusprechen.

Sie, mit diesem Lächeln, das wie eine halbe Frage war, und er, mit diesem Blick, der mehr sah, als man ihm zugetraut hätte.

Sie standen oft nebeneinander, schauten in dieselbe Richtung, sprachen über Bücher, über das Universum,
über Dinge, die größer waren als sie selbst. Und dann kam das Leben, wie es das eben tut: laut, fordernd, schnell.
Er zog weg, sie blieb. Briefe wurden nie geschrieben. Anrufe nie gemacht. Es war nicht, dass sie einander vergaßen.
Es war schlimmer: Sie dachten zu oft aneinander – und genau deshalb hatten sie Angst, es zu zerstören, indem sie es versuchten.

Die Jahre rollten über sie wie weiche Wellen, die doch mehr mit sich nahmen, als man merkt. Beide lebten. Lachten. Liebten auch andere.
Aber nie ganz so. Nie so tief, dass es wehtat, wenn der andere lächelte.

Er wurde ein Mann, der früh wach wurde, weil die Stille ihn rief. Sie wurde eine Frau, die Tee trank wie ein Ritual
und den Tag mit einem Lächeln begrüßte, das niemand sah. Beide alt, beide allein – aber nie einsam, nicht ganz.
Irgendetwas hielt sie. Ein Gedanke vielleicht. Oder ein Lied. Oder einfach ein Gefühl, das keinen Namen mehr hatte.

Sie schrieben sich nie. Keiner wollte dem anderen das Herz aufdrängen. Vielleicht aus Stolz. Vielleicht aus Scham.
Vielleicht, weil sie dachten, der andere hätte längst vergessen.

Und als der Tag kam, an dem ihr letzter Atemzug fiel
– leise, wie ein Blatt, das den Ast verlässt, ohne Drama, ohne Abschied
– da hielt er inne, als hätte jemand seinen Namen gerufen.
Er wusste nicht, dass sie gegangen war - aber sein Herz.

Er folgte am selben Abend, nicht aus Kummer, nicht aus Zufall – sondern weil manche Seelen die Uhr anders lesen.
Und irgendwo, wo die Zeit sich auflöst wie Zucker im Tee, irgendwo, wo Form sich in Licht verwandelt,
traf ihr Gedanke auf seinen.

Kein Bild. Kein Wort. Nur das Aufleuchten eines Erkennens, das sich nicht erklären ließ – nur fühlen.

Sie standen sich gegenüber, nicht mit Augen, nicht mit Händen –
aber mit allem, was in ihnen je jung gewesen war.

Er lächelte.
Sie weinte.
Oder vielleicht war es umgekehrt.

Und in jenem Augenblick, der keiner war – weil Ewigkeit keine Uhr trägt –
war alles gesagt, was nie ausgesprochen wurde.
War alles vergeben, was nie geschehen war.
War alles geliebt, was sie sich nie zu lieben wagten.

Und vielleicht flüsterten die Sterne leise,
vielleicht nickte der Wind,
vielleicht hielt das Universum für einen Moment den Atem an –

weil zwei, die ein Leben lang schweigend nebeneinander hergeliebt hatten,
endlich im gleichen Gedanken ankamen.

Nicht zu spät.
Nie zu spät.

Nur still.
Und unendlich.
Und wahr.




Grüße von der Alpakaweide